
Vollzieht sich Entwicklung überall gleich?
Gedanken zum Charakter der sich gesetzmäßig vollziehenden Entwicklung.
Von Paul Oswald
Wie funktioniert gesellschaftliche Entwicklung, und was bedeutet es, dass sie sich gesetzmäßig vollzogen hat und weiterhin vollzieht? Diese Fragen gehörten zu den zentralen Themen im ersten Modul über den Historischen Materialismus. Besonders beschäftigt hat uns die Widersprüchlichkeit zwischen Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte sowie die Erkenntnis, dass jede neu erreichte gesellschaftliche Stufe einen Fortschritt mit sich brachte. Der entscheidendste Punkt – den die bürgerliche Klasse mit allen Mitteln zu leugnen versucht – ist die Gesetzmäßigkeit (d.h. Zwangsläufigkeit) der kommunistischen Produktionsweise. Diese Erkenntnis wird verklärt, da sie den zwangsläufigen Untergang der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Klasse impliziert.
Zu Beginn des Moduls stellte sich die Frage, ob sich die gesetzmäßigen gesellschaftlichen Stufen überall auf der Welt gleichermaßen durchgesetzt haben und ob diese Annahme somit überhaupt Gültigkeit besitzt. Nicht jede Gesellschaft durchlief alle Entwicklungsstufen, und nicht in jeder Gesellschaft kam es zu revolutionären Umbrüchen. Dies hängt mit dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung zusammen. Betrachtet man die verschiedenen Kontinente, fällt auf, dass sich die Gesellschaften einerseits durch ihre natürlichen Bedingungen (z.B. geographische, klimatische) und andererseits durch ihren gesellschaftlichen Überbau (z.B. in den Ausprägungen des Staates) unterscheiden. Diese Unterschiede führten dazu, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen, ausgehend von den jeweiligen Bedingungen, in unterschiedlicher Geschwindigkeit vollzogen und verschiedene Ausprägungen annahmen. So entwickelte sich in China historisch kein Kapitalismus, obwohl es einen sehr weitentwickelten Feudalismus gab – Marx bezieht sich in diesem Zusammenhang an manchen Stellen auf die asiatische Produktionsweise. Und obwohl in China kein Kapitalismus entstand, kam es zu einer sozialistischen Revolution. Die Gesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent befanden sich im 15. Jahrhundert zwischen der Urgesellschaft und dem Feudalismus. Die Produktionsweise der Sklaverei existierte in den afrikanischen Gesellschaften nie, obwohl es dort ebenfalls Sklaven gab. In Afrika kam es bis zu den antikolonialen Kämpfen nie zu einer revolutionären Entwicklung, da die Gesellschaften bis zum 15. Jahrhundert unterhalb des Feudalismus blieben, sich somit keine Sklavenhaltergesellschaft herausbildete und die Klassengegensätze sich nicht entfalten konnten.
Ab dem 15. Jahrhundert fand in Europa eine Internationalisierung des Handels statt, und europäische Gesellschaften brachen mit Schiffen in die Welt auf. Dies führte dazu, dass Gesellschaften, die sich auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befanden, aufeinandertrafen: die spätfeudalen/frühkapitalistischen europäischen Gesellschaften und ur- oder halbfeudale Gesellschaften in Afrika, Asien und Amerika. Dies hatte weitreichende Konsequenzen: Einerseits machten die westlichen Gesellschaften rasante Entwicklungssprünge, während den weniger entwickelten Gesellschaften die Kapazitäten für ein selbsttragendes wirtschaftliches Wachstum raubten. In Amerika wurden ganze Gesellschaften ausgelöscht, und die Gold- und Silbervorkommen wurden unter den Nagel gerissen. In Afrika wurden europäische Handelsgüter gegen Sklaven eingetauscht – unter anderem, um das Gold und Silber aus Amerika zu rauben. Dies zerriss die bisherigen Gesellschaften Afrikas, die nun begannen, sich gegenseitig zu bekriegen, um Gefangene nehmen zu können, die sie an die Europäer gegen Handelswaren verkauften. Teilweise boten sie sogar eigene Gesellschaftsmitglieder den Europäern an.
Nach der Sklaverei war der gewachsene Kapitalismus in Westeuropa und Nordamerika in der Lage, die ganze Welt in ein globales Produktionsnetzwerk einzubeziehen. Der Sklavenhandel wurde durch den Kolonialismus abgelöst. Dies geschah dort am schnellsten, wo die Europäer bereit waren, andere Güter (wie z.B. Elfenbein, Gummi, Palmenerzeugnisse usw.) einzutauschen. In den afrikanischen Gesellschaften entwickelten sich die europäischen Handelswaren zunehmend von Luxus- zu alltäglichen Konsumgütern. Der alltägliche Konsum europäischer Handelsgüter führte dazu, dass in den afrikanischen Gesellschaften schnell die Bereitschaft entstand, eine Alternative zum Sklavenhandel zu organisieren. Die europäischen Handelsgesellschaften erlangten ein unfassbares Vermögen, und die europäischen Hafenstädte entwickelten sich zu den Zentren der kapitalistischen Entwicklung. Neben dem direkten Raub an Ressourcen und Menschen zerstörten die Europäer auch vorhandene Entwicklungen. Das bekannteste Beispiel ist vermutlich die Zerstörung der indischen Textilindustrie, an der Großbritannien mit allen Mitteln arbeitete.
In dem entstehenden Kolonialsystem war eines der wichtigsten Merkmale, dass Afrikaner als wirtschaftliche, politische und kulturelle Vertreter der Kolonisatoren dienten. Ein zentrales Mittel, um dies zu erreichen, war die koloniale Bildung. Die Kolonisten errichteten Handelsbarrieren, und die Kolonien wurden gezwungen, lediglich mit ihrem Mutterland Handel zu treiben. Dieses bestimmte die Handelsbedingungen und fand einen Markt vor, auf dem es selbst die schlechteste Ware absetzen konnte, weil es keine Konkurrenz gab. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der rasante Fortschritt in den kapitalistischen (und später imperialistischen) Ländern auch aus diesem international gewachsenen Verhältnis resultierte. Die Entwicklung und der Fortschritt wurden zu einem Resultat der Unterentwicklung und Unterdrückung.
Während sich in Europa mit der aufsteigenden Entwicklung der Produktionsweisen parallel die Klassengegensätze weiter entfalteten und schließlich auf zwei Klassen (Proletariat und Bourgeoisie) konzentrierten, entstand in einem Großteil der Welt als entscheidender Gegensatz der zwischen verschiedenen Gesellschaften (Mutterland und Kolonie). Dieser Gegensatz lenkte die Entwicklung, indem von außen bestimmt wurde, an welchem Ort, auf welche Weise und was produziert wurde. Der Klassenkampf ist in jenen Ländern, denen die Möglichkeiten für eine selbstständige Entwicklung genommen wurden, unmittelbar mit der Wiedererlangung eben dieser verknüpft.
All das widerspricht nicht der gesetzmäßigen und stufenweisen Folge von Produktionsweisen, die sich welthistorisch durchgesetzt hat. Auch in Afrika, Amerika und Asien vollzog sich eine Entwicklung der Produktionsweise bis zu einer bestimmten Stufe. Diese Gesellschaften wurden alle auf die ein oder andere Weise in das kapitalistische Produktionssystem eingebunden. Die verschiedenen Entwicklungsstufen setzten sich in einem internationalen Maßstab durch und bedingten den internationalen Verkehr (z.B. das Aufkommen der Schifffahrt und des Seehandels) – wie sich in den Beziehungen zwischen Europa, Afrika, Asien und Amerika zeigt. Neben dem Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion bei privater Aneignung tritt zusätzlich der Widerspruch zwischen reichen entwickelten Ländern und jenen, aus denen Reichtum gezogen wird. Auch dieser Widerspruch drängt gesetzmäßig in Richtung der Sprengung der bisherigen (internationalen) Produktionsverhältnisse, da der internationale Handel und damit verbunden die Entwicklung der internationalen Produktivkräfte im Gegensatz zu der Kontrolle und den Fesseln durch einige wenige Länder und ihrer Bourgeoisie steht, die den internationalen Austausch kontrollieren. Ist es dann nicht so, dass auch in diesen Gesellschaften die Widersprüche in Richtung einer kommunistischen Produktionsweise drängen, um aus dem System der Beherrschung und Unterdrückung auszubrechen?